Kunstlied der Romantik

Kunstlied der Romantik
Kunstlied der Romantik
 
Sololieder mit Instrumentalbegleitung hatten bis um 1800 nicht die gleiche Bedeutung wie andere musikalische Gattungen. Im Barock zum Beispiel gehörte das Generalbasslied vorwiegend in die Sphäre häuslicher und geselliger Musikübung, aus der es sich auch in der Wiener Klassik nur zögernd löste. Erst im 19. Jahrhundert gewann das Kunstlied den Rang einer von höchstem Anspruch getragenen Kunstäußerung. Dazu hat die romantische Poesie, die eine Musikalisierung der Worte und Verse anstrebte, ebenso beigetragen wie die Entwicklung des Klavierbaus bis hin zu den modernen Klangmöglicheiten. Einzelne Liedvorträge, seit etwa 1860 auch ganze Liederabende, integrierten das Klavierlied ins Konzertleben, sodass es nach und nach als gleichwertige Ausdrucksform neben Oper oder Oratorium, Sinfonie oder Sonate anerkannt wurde. Seine Entfaltung vollzog sich dabei allerdings fast ausschließlich im deutschsprachigen Raum. Daher blieb der Begriff »Lied« an das deutsche Sololied gebunden und wurde sogar in andere Sprachen als Fremdwort übernommen.
 
Gleich zu Beginn seiner Gattungsgeschichte erreichte das romantische Kunstlied durch die besondere lyrische Begabung Franz Schuberts eine Stufe höchster Vollendung. Unglaublich früh, mit 17 und 18 Jahren, schrieb Schubert, angeregt vor allem durch die Lyrik Goethes bereits Lieder ausgereifter Meisterschaft wie »Gretchen am Spinnrade«, »Heidenröslein« oder den »Erlkönig«. Etwa ein Zehntel der über 660 Schubert-Lieder vertonen Goethe-Gedichte. Matthias Claudius, Schiller, Novalis, Friedrich Rückert, Heine oder die Gebrüder Schlegel sind einige weitere der bekanntesten aus der großen Zahl der übrigen Textdichter. Gedichte von Wilhelm Müller benutzte Schubert für die Liederzyklen »Die schöne Müllerin« (1823) und »Winterreise« (1827).
 
Das Neue und Besondere der Lieder Schuberts beruht auf ihrer eindringlichen Interpretation des Textes. An dieser schöpferischen Auseinandersetzung mit dem Dichterwort haben die expressive Gesangsmelodik und der lebendig charakterisierende Klaviersatz gleichermaßen Anteil. Die Erfindung tonmalerisch und psychologisch bedeutungsstarker Motive und eine farbenreiche, progressive Harmonik sind gattungsprägende Elemente seines Liedstils. Der Anlage nach unterscheidet man das Strophenlied, das variierte Strophenlied und das durchkomponierte Lied, woraus sich im Einzelnen zahllose Formungsmöglichkeiten ergeben. Der Gesangspart kann bei überwiegend liedhafter Führung auch rezitativische, ariose, dramatische oder stark deklamatorische Züge tragen.
 
Die Liedproduktion des 19. Jahrhunderts erreichte bald kaum übersehbare Ausmaße. Unter den Zeitgenossen Schuberts sind Carl Maria von Weber und Carl Loewe hervorzuheben, letzterer vor allem wegen seiner eindrucksvollen dramatischen Balladen. In der folgenden Generation war, neben Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann der überragende Liedkomponist. Fast die Hälfte seiner etwa 300 Klavierlieder entstand 1840, im Jahr seiner Eheschließung mit Clara Wieck, darunter die Zyklen »Myrthen« (nach verschiedenen Dichtern), »Liederkreis« (Joseph von Eichendorff), »Frauenliebe und Leben« (Adalbert von Chamisso) und »Dichterliebe« (Heine). Der Klavierpart erhält in Schumanns Liedern durch feinsinnige Charakterzeichnung und Stimmungsnuancierung, mitunter auch durch längere Vor- und Nachspiele, ein besonderes Gewicht, was sich nicht zuletzt daraus erklärt, dass Schumann zuvor fast ausschließlich Klavierkompositionen geschrieben hatte.
 
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen sich, wie in anderen musikalischen Bereichen, auch im Kunstlied zwei divergierende Richtungen gegenüber. Die Stilhaltung der neudeutschen Schule, der es auf freie Deklamation, Vermeidung strophischer Regelmäßigkeit, ausdrucksvolle Harmonik und charaktervolle Durchgestaltung des Klaviersatzes ankam, repräsentieren die Lieder von Franz Liszt, Richard Wagner und - mit Einschränkungen - Peter Cornelius. In deutlichem Gegensatz dazu stehen einige Komponisten der Schumann-Nachfolge, unter ihnen Robert Franz und Adolf Jensen, und vor allem Johannes Brahms. Dessen Liedschaffen ist geprägt von seiner hohen Achtung vor dem Volkslied und der überkommenen Liedtradition. In Brahms' Kunstliedern überwiegen dementsprechend das variierte Strophenlied und die periodisch geschlossene Melodiegestalt. Die Harmonik ruht auf metrisch klaren und formbildend kadenzierenden Bassführungen. Die Wahl der Texte zeigt ein reiches Spektrum unterschiedlicher Gehalte, dabei aber eine gewisse Vorliebe für dunkle und resignative Töne. Zyklische Bindung zeigen die »Romanzen aus Ludwig Tiecks Magelone« (1862) und die »Vier ernsten Gesänge« auf biblische Texte (1896).
 
In der Spätzeit des 19. Jahrhunderts ist eine immer stärkere Individualisierung der Liedkomposition zu beobachten. Die beherrschende Gestalt dieser Gattungsphase war Hugo Wolf, der seine Kompositionen nach Dichtern geordnet in Heften veröffentlichte: darunter nach Gedichten von Eduard Mörike (1889), Eichendorff (1889), Goethe (1890) und Michelangelo (1898), sowie das »Spanische Liederbuch«, (1891) und das »Italienisches Liederbuch« (1892-96). In seinen Liedern tritt eine unübertroffene Charakterisierungskunst hervor, die den poetischen Gehalten jedes einzelnen Gedichtes ebenso gerecht wird wie dem Stil und Tonfall der verschiedenen Dichter. Die Singstimme wird äußerst differenziert behandelt und stets aus dem deklamatorischen Gestus der Sprache heraus gestaltet. Das Klavier tritt ihr in ganz eigener Durchzeichnung und Plastizität gegenüber und bewegt sich nicht selten in Grenzbereichen spätromantischer Harmonik und Klanglichkeit. In der Nachfolge Liszts und Wagners stehen die Lieder von Richard Strauss, die er in vielen Fällen später für Gesang und Orchester umarbeitete. Hans Pfitzner dagegen knüpfte an die von Schumann geprägte Ausdruckshaltung des hochromantischen Klavierliedes an. Einen hohen Stellenwert schließlich hat das Lied im Schaffen Gustav Mahlers. Seine Orchesterlieder stehen in enger Wechselbeziehung zu seinem Sinfonieschaffen.
 
Das außerdeutsche Sololied gewann in Tschechien, bei Antonin Dvořák, in Russland bei Aleksandr Borodin und Modest Mussorgskij hohe Bedeutung. Auch in Skandinavien entwickelte sich eine reiche Liedtradition, unter anderem durch Niels Gade und Edvard Grieg. In Frankreich stand das Sololied lange Zeit im Schatten der Oper. Erst durch die Bekanntschaft mit dem deutschen Kunstlied erwachte um die Jahrhundertmitte das Interesse an vergleichbaren Ausdrucksformen. Charles Gounod, César Franck, Edouard Lalo, Camille Saint-Saëns und Georges Bizet zählen zu den Vertretern einer ersten Blütezeit des französischen Liedes. Ihre Auswirkungen sind über die Liedkomponisten Henri Duparc und Gabriel Fauré bis zum reichen Liedschaffen Claude Debussys und Maurice Ravels spürbar.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik.Laaber 1988.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Michael Raeburn und Alan Kendall. Band 2: Beethoven und das Zeitalter der Romantik. Band 3: Die Hochromantik. München u. a. 1993.
 Rummenhöller, Peter: Romantik in der Musik. Analysen, Portraits, Reflexionen. Kassel u. a. 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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